Kategorie: Belletristik

  • Hape Kerkeling mal ganz anders – „Gebt mir etwas Zeit. Meine Chronik der Ereignisse“

    Hape Kerkeling mal ganz anders – „Gebt mir etwas Zeit. Meine Chronik der Ereignisse“

    von Hugo Siebold

    Hape Kerkeling hat mich oft zum Lachen gebracht, doch sein neuestes Buch zeigt ihn von einer ernsteren Seite. In Gebt mir etwas Zeit (2024, Piper Verlag) begibt er sich auf eine persönliche Spurensuche – mal fesselnd, mal weniger packend.

    Kerkeling verbindet Erlebnisse aus seinem Leben mit der Geschichte seiner Vorfahren, wobei die Ahnengeschichte der „Kerckrings“ in Amsterdam einen großen Teil einnimmt. Die historischen Rückblicke vermischen sich mit seinen persönlichen Erlebnissen, vom Aufstieg im Showbusiness bis zu den bewegenden Momenten seiner Beziehung zu Duncan und dessen Aids-Diagnose.

    Zwischen Humor und Melancholie

    Im Gegensatz zu vielen klassischen Biografien wählt Kerkeling einen erfrischend anderen Ansatz. Er verzichtet auf eine herkömmliche, chronologische Erzählweise. Stattdessen erzählt er in einem lebensnahen Stil einzelne Geschichten aus seiner Vergangenheit. Diese Herangehensweise gleicht einer Stadtführung abseits der Touristenpfade, man taucht tiefer ein und versteht mehr. So lernt man den Autor nicht nur als Person kennen, sondern bekommt auch einen lebendigen Eindruck davon, wie er „tickt“. Gerade die persönlichen Geschichten hinterlassen einen bleibenden Eindruck und gerade auf diesen kommt es mir letztlich an.

    Der Schreibstil macht einfach Spaß. Er ist lebendig und mitreißend. Man hat das Gefühl, als würde man direkt mit dem Autor reden. Dabei nimmt er kein Blatt vor den Mund:

    „Deswegen habe ich mich charaktertechnisch nicht für scheu, lieb oder neunmalklug entschieden, sondern für lustig. Und glauben Sie mir, das war gut so. Zugegeben, lustig gewinnt zwar fast nie, aber lustig landet auch nicht auf der Matte. (Der Satz ist so uneindeutig, der könnte glatt von der SPD sein.)“.

    Ein persönliches Puzzle aus Vergangenheit und Gegenwart

    Kerkeling lernt seine große Liebe Duncan im April 1987 in einem Club in Amsterdam kennen. Schon im ersten Moment funkt es zwischen den beiden. Ihre Liebesgeschichte nimmt einen großen Teil im Buch ein. Er beschreibt die schönen Momente genauso anschaulich wie die schwierigen, etwa als Duncan seine Aids-Diagnose erhält.

    Kerkeling schafft es, dass man als Leser:in Mitgefühl und kein Mitleid entwickelt.

    „Nur wenige Wochen nach dem Befund zeigt Aids seine böse Fratze und beginnt, Duncans Körper gezielt zu zerstören. Die Zerstörungswut dieser Krankheit ist unvergleichlich und hat etwas Dämonisches. Jede Zelle des Körpers scheint betroffen zu sein.“

    Bei so schwierigen Themen, eine große Fähigkeit!

    Doch so bewegend diese Passagen sind, nicht jede Thematik im Buch hat mich gleichermaßen gepackt. Wer sich nicht für Ahnenforschung interessiert, wird sich mit den Passagen über die Vorfahren schwertun. Besonders die Erzählungen über die Kerckrings, eine wohlhabende Amsterdamer Familie des 17. Jahrhunderts, sind für mich eher nebensächlich.

    Diese Passagen verdeutlichen seine besondere Verbindung zu den Niederlanden, doch ich wartete beim Lesen nur darauf, dass sie zu Ende gingen, um wieder in die spannenden Erlebnissen seines Lebens einzutauchen. Anderen wird diese Abwechslung aus Realität und Fiktion aber vielleicht gefallen.

    Der Schreibstil und die Erzählkunst von Hape Kerkeling sind wirklich beeindruckend. Seine Fähigkeit, zu unterhalten, zeigt sich auch in diesem Buch. Und das nicht nur oberflächlich, sondern auch tiefgründig. Die Familiengeschichte, die bis ins 12. Jahrhundert zurückreicht, konnte mich nicht fesseln. Mit einem stärkeren Fokus auf sein eigenes Leben hätte dieses Buch für mich das Potenzial gehabt, die beste Biografie zu werden, die ich je gelesen habe.

  • Ab wann ist eine Beziehung toxisch? – Ruth Maria Thomas’ „Die schönste Version“

    Ab wann ist eine Beziehung toxisch? – Ruth Maria Thomas’ „Die schönste Version“

    von Paula Girmann

    „Die schönste Version“ ist alles andere als eine schöne Geschichte. In ihrem Debütroman erzählt Ruth-Maria Thomas schonungslos ehrlich von einer jungen Liebe voller Provokationen, Kontrollverlusten, Sex und Gewalt.  

    Die beste Version ihrer selbst

    Eine ostdeutsche Provinzstadt, die späten 2000er Jahre und die junge Jella, die schön, begehrenswert und geil sein will – für die Männer. Dann trifft sie Yannick, ihre erste große Liebe, mit dem sie alles richtig machen und die beste Version ihrer selbst sein will. Doch es kommt alles anders und Jella findet sich auf einer Polizeiwache wieder.

    Ausgehend von der Polizeiwache wird aus Jellas Perspektive abwechselnd zwischen Gegenwart und Rückblenden in ihre Vergangenheit erzählt. Stück für Stück rekonstruiert Jella ihre Kindheit und Jugend in Ostdeutschland, von der Trennung ihrer Eltern über neue und alte Freundschaften bis zu den ersten romantischen und sexuellen Erfahrungen. Mit dem beginnenden Sexleben werden auch Jellas Bestrebungen größer, dem gesellschaftlichen Idealbild einer Frau zu entsprechen, was in ihrem Fall besonders mit einem von Männern begehrten Äußeren in Verbindung steht. „Wir beschlossen, dass wir von nun an am Projekt Geilheit arbeiten müssten, mit dem Ziel, unverzichtbar, nein: unentbehrlich für Männer zu werden.“

    Ruth-Maria Thomas zeigt uns unterschwellig und radikal zugleich eine junge Frau, die auf der Suche nach sich selbst immer weniger sie selbst zu sein scheint und nur für die vermeintlichen Ideale einer patriarchalen Gesellschaft zu leben versucht. In den immer wiederkehrenden deep dives in Jellas Gedankenwelt spiegeln sich die Zweifel an ihren eigenen Wahrnehmungen und Gefühlen. Sie reflektiert ihre oft schmerzhaften, manchmal von physischer wie psychischer Gewalt geprägten Erfahrungen mit Männern und hinterfragt dabei den Wert ihrer Empfindungen gegenüber der Person, die sie unbedingt sein möchte. Die Brutalität, mit der Thomas diese gewaltvollen und emotional geladenen Momente beschreibt, lässt stellenweise den Wunsch aufkommen, den Roman wegzulegen. 

    Sexuelle Sozialisation

    Insbesondere die zum Teil detailliert erzählten Passagen, in denen Jella sexuelle Gewalt erfährt, zeigen auf brutalste Weise den Zusammenhang zwischen Sozialisation und Sexualität. Jellas Erleben dieser Momente ist dabei geprägt von Erklärungsversuchen, Strategien, um solche Gewalt zu ertragen und dem ständigen Aufrechterhalten einer Illusion. Dabei gelingt es Thomas durch schwammige, uneindeutige Dialogszenen einerseits und wirre Sprünge in Jellas Gedanken andererseits die Komplexität des Themas darzustellen. Wie lange sind Schmerzen und Gewalt normal und ab wann ist es zu viel? Wie viel Ertragen von körperlichen und psychischen Belastungen gehört zum Frausein dazu? 

    Kaum eine der Figuren erscheint wirklich sympathisch, toxische Männlichkeit und problematische character traits an allen Ecken und Enden. Der Vater, der seit Jahren einem früheren Leben hinterhertrauert, die Mutter, die in Berlin ihr vermeintlich glanzvolles Wunschleben führt oder Jellas Freund Yannick, der seine gescheiterte Kunstkarriere nicht akzeptieren will. Der Roman zeichnet eine Konstellation von Figuren, die allesamt Aspekte verschiedener gesellschaftlicher und struktureller Probleme versammeln. 

    Zwischen Glitzer-Lipgloss, Modetrends und gesellschaftlichen Idealbildern pointiert Thomas eindrucksvoll die Schwierigkeiten der Sozialisation einer ganzen Generation, wenn nicht sogar über diese hinausgehend. Ostdeutsche Nachwendezeit, toxische Persönlichkeiten und eine junge Frau, die in einer patriarchalen Gesellschaft nicht nur sich selbst, sondern auch ihren Wert als Frau sucht. „Die schönste Version“ hatte kaum eine Seite, die ich gerne gelesen habe. Doch genau deshalb hat mich der Roman überzeugt, weil er wie ein Schlag ins Gesicht die brutale Lebensrealität aufzeigt, mit der sich wahrscheinlich viele Frauen und Mädchen identifizieren können. Wer am liebsten schöne Liebesromane zur Unterhaltung liest, sollte den Debütroman von Ruth-Maria Thomas wahrscheinlich eher meiden. Wer sich allerdings gerne mit gesellschaftskritischen, wenn auch nicht immer leicht verdaulichen Themen auseinandersetzt, der wird es sicher nicht bereuen „Die schönste Version“ zu lesen.