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  • Von Marxisten, Kommunisten und Revolutionären – Philipp Lenhards „Café Marx“ (2024)

    Von Marxisten, Kommunisten und Revolutionären – Philipp Lenhards „Café Marx“ (2024)

    von Lorenz Blasius

    In Café Marx erzählt Philipp Lenhard die Geschichte des Instituts für Sozialforschung: vom Scheitern der Revolution und dem Beginn der Kritischen Theorie. 

    Frankfurter Schule

    Wer sich mit der Sozial- und Geistesgeschichte des 20. Jahrhunderts befasst, wird um das Frankfurter Institut für Sozialforschung und die Kritische Theorie – oder auch „Frankfurter Schule“ – nicht herumkommen. Die komplizierte Gründungsgeschichte des Instituts gehört fast in den Bereich linker Allgemeinbildung: Mit privaten Fördermitteln wurde ein unabhängiges Forschungsinstitut errichtet, das sich marxistischer Gesellschaftstheorie und deren Erneuerung widmen sollte. Eng verknüpft mit dieser Geschichte sind prominente Namen wie Max Horkheimer und Theodor W. Adorno sowie große Werke der Moderne, wie die im Exil geschriebene Dialektik der Aufklärung

    Die Biografien der Schlüsselfiguren wurden oft erzählt, und auch Gesamtdarstellungen der Ideengeschichte der Kritischen Theorie sind nichts vollkommen Neues. Café Marx unternimmt jedoch eine interessante Akzentverschiebung: An die Stelle einer weiteren Darstellung der Protagonisten tritt vielmehr die Geschichte der Ausgangsbedingungen, die zur Kritischen Theorie führten. Philipp Lenhard ist bereits Herausgeber der Werke sowie Verfasser einer vielbeachteten Biografie des Institutsgründers Friedrich Pollock und lehrt derzeit Politikwissenschaft in Berkeley, Kalifornien. 

    Wer also eine weitere Biografie Adornos oder Horkheimers erwartet, von denen es bereits exzellente gibt, ist hier fehl am Platz. In den Blick genommen wird „das Institut“ selbst, wie der Autor schreibt. Weniger die einzelnen Lebensgeschichten als vielmehr die Verbindungen und Konstellationen der Institutsgründer, Förderer und Mitarbeiter treten in den Vordergrund. Betrachtet wird also die kollektive Leistung im Umfeld des Instituts sowie das historische Projekt einer Erneuerung des Marxismus. Und das heißt, dass neben den Institutsgründern selbst auch vermeintliche Randfiguren, wie beispielsweise Richard Sorge, in ihrer Rolle für das Institut gewürdigt werden. 

    Ideengeschichtliches Bild der Weimarer Republik

    Was dabei entsteht, ist ein sehr gelungenes sozial- und ideengeschichtliches Bild des gesellschaftlich-intellektuellen Klimas der Weimarer Republik und des anschließenden Exils. Porträtiert wird eine zersplitterte kommunistische Linke sowie erbitterte politische Grabenkämpfe zwischen Bolschewisten, Anarchisten und Reformisten, zwischen Polit-Zeitschriften, Parteitreuen und Abweichlern, Reaktionären und Progressiven – etc. Kurz: Mit beeindruckendem Materialreichtum beleuchtet Lenhard die historischen Bedingungen, unter denen die Kritische Theorie erst entstehen konnte – als Reaktion auf das Ausbleiben der Revolution und die Erfahrungen der ersten großen europäischen Katastrophe des 20. Jahrhunderts: des Ersten Weltkriegs. 

    Beachtlich ist, dass trotz dieser gigantischen Materialfülle und des ambitionierten Vorhabens Lenhard (fast) nie den Überblick verliert und durchgängig in einem klaren und gut lesbaren Stil eine komplexe Geschichte lebendig werden lässt, die zentrale historische Netzwerke und Figuren des 20. Jahrhunderts in Verbindung setzt. Wie lebendig Lenhard dies gestaltet, wird greifbar durch die jedem Kapitel vorangestellten kurzen fiktiven Abschnitte, die auf das kommende Kapitel hinleiten sollen: Eine kleine fingierte Prosaszene, die sich so oder so ähnlich hätte abspielen können, umreißt kurz das Thema des Kapitels und setzt gekonnt die Atmosphäre, in der der weitere historische Bericht steht. 

    Insgesamt liegt mit Café Marx also eine hervorragend lesbare sozial- und ideengeschichtliche Ein– oder besser: Hinführung zur Kritischen Theorie vor, die sich auch vor kanonisierten, „großen“ Werken wie Dialektische Phantasie von Martin Jay oder Rolf Wiggershaus’ Frankfurter Schule nicht verstecken muss. Empfehlenswert ist das Buch bei weitem nicht nur für Neulinge, sondern für alle, die an einer facettenreichen Darstellung der Charaktere und Ausgangsbedingungen der Kritischen Theorie interessiert sind. Klare Leseempfehlung!